Schöpferisches Können braucht einen Rahmen
Es gibt kein Bild ohne das feste Rahmenmaß, keine Schönheit ohne Beschränkung
Keine kreative Tat kommt ohne Beschränkung aus. Im Gegenteil, es ist die Beschränkung, die jedes Erschaffen erst möglich macht. Eckdaten, feste Größen, Konventionen, willkürliche gezogene Randlinien im Raum - in der Beliebigkeit kann es nicht entstehen. Das Kunstwerk braucht seine Grenze wie auch erst ein Spiel durch seine Regeln entsteht.
Würde ein Maler die Farbe ins offene Universum werfen, oder in den Himmel oder in das Meer, wo sie sich verstreute, es entstünde kein Bild.
Freilich kann der Geist grenzenlos denken und fühlen, doch im Moment, wo wir auf der Erde wirken, wird nichts Sichtbares ohne Maß und Rahmen entstehen. Tun wir etwas, ohne uns - bewusst - Schranken gesetzt zu haben, verliert sich das Tun im All.
Unser Körper kann ein Produkt solcher Schöpfung sein. Jeder hat einen und jeder entscheidet selbst, ob er wie ein Bildhauer an sein Werk geht oder ihn nur nutzt und maßlos beliebigen Instinkten folgt. Hat man sich für Maß und Beschränkung entschieden und sorgfältig ausgewählt, was man sich fortan in den Mund stecken und gießen wird, welchen Bewegungsroutinen der Körper folgen soll und welchen nicht, beginnt ein Erschaffensprozess. In definierte Grenzen zeigt sich ein Resultat.
Ich will einen Brief schreiben, oder ein Mail.
Welche Beschränkungen lege ich mir auf? In der äußeren Form? In der Wortwahl? Innerhalb welchen Rahmens wähle ich die Worte. Sieze ich oder duze ich? Wenn ich selbst Post erhalte und die Nachricht bewegt sich innerhalb der gesetzten Regeln der Rechtschreibung, freue ich mich schon. Ausreißer, “Fehler” genannt, erkennt man sofort. Sie lenken von der Botschaft ab.
Ich finde mich in einer Beziehung wieder.
Welchen Rahmen hat sie? Nur die Exklusivität macht eine intime Beziehung erst göttlich. Sie verleiht ihr das Potential auf der vollen Bandbreite menschlicher Energie in den Austausch zu gehen. Das Potential wohlgemerkt. Lasse ich eine zweite intime Beziehung gleichzeitig zu, oder gar mehr, ist dieses Potential zerstört. Die Beschränkung, in diesem Fall die strenge, ist eine notwendige Bedingung für Tiefe und Weite. Gebe ich meiner Beziehung den festen Rahmen der Ehe? Der Arbeitstitel ‘In guten wie in schlechten Zeiten’, ändert die innere Dynamik der Beziehung völlig. Ein Paar, das sich traut, hat viel vor. Das Eheversprechen bildet eine stabile Basis für die Geburt und das Aufziehen gemeinsamer Kinder.
Ein Kleinkind im Sandkasten wählt das Spiel mit Form. Sand, flächig verstreut ist nur Sand. Ein Kuchen, eine Burg, das ist schon etwas. Der perfekte Sandkuchen ahmt die Form perfekt nach. Freude! Stolz! Geschafft!
Handlungen und Routinen im zeitlichen Rahmen geben uns Halt und erschaffen die Möglichkeit zum kreativen Werk. Sie ermöglichen Erfolgserlebnisse. Die Arbeitszeit ist zwischen 8 und 4. Von 9 bis 10 Uhr übe ich Gitarre. Abends um 19 Uhr trifft sich die Familie bei Tisch und bespricht den Tag. Nur durch feste Koordinaten in Raum und Zeit können wir anderen begegnen. Das Treffen findet um 18 Uhr an dem Ort statt. Wer später kommt, oder woanders hingeht, ist nicht dabei.
Eine tägliche Situation, das gemeinsame Essen.
Äußere und innere Form machen es zu einem kulturellen Ereignis. Wenn die Leinwand vorbereitet ist, kann sich etwas Bedeutungsvolles darauf ereignen: Ein gutes Gespräch oder erinnerungswürdige gemeinsam verbrachte Zeit. In der Maßlosigkeit und der Abwesenheit von festen Rahmenpunkten verläuft jede Chance zum bleibenden Eindruck. Das sorgfältig angerichtete Gedeck. Die Teilnehmer passend gekleidet, die Geräuschkulisse rücksichtsvoll, das Miteinander höflich: Ein Bild. Europa kennt Tischsituationen mit fünf Gläsern, 10 Teilen Silberbesteck, Dresscode und Sitzordnung. Das Ergebnis solcher selbst gesetzten starren und durchaus willkürlichen Mühen sind Ereignisse, die man nicht vergessen soll.
Produktives Leben findet immer in festem Rahmen statt. Ein ehemaliger Physiklehrer kommentierte den Sinn von Strafe, also der Durchsetzung von Grenzen, mit den Worten: “Jeder ist frei in seiner Bahn.” Wie Planeten finden wir innerhalb unserer präzisen Bahn unsere Bestimmung, die schiere Existenz. Außerhalb droht das loses Treiben und Zerschellen. Wer sich selbst Regeln, Maß und Beschränkungen auferlegt, wird sichtbare Resultate mit entsprechendem Sinn und entsprechender Schönheit hervorbringen.