Der Mensch - ein Instrument
Folge 1 · über Liebe und Beziehungen · Warum es so wichtig ist, mit wem wir in Kontakt sind
Die Dynamik in Beziehungen ist, als wären wir am ganzen Körper mit Tasten übersät, die in unterschiedlichen Farben aufleuchten, wenn man sie drückt. Jede hat eine andere Farbe und einen eigenen Ton. Bei einer Begegnung zwischen zwei Menschen bringt der eine den anderen so auf einzigartige Weise zum Leuchten. Diese ganz bestimmte Melodie und das dazugehörige Lichtspiel kommen nur in dieser Interaktion vor.
Die Vorstellung, dass Menschen feste Charaktereigenschaften haben, hält sich in den Köpfen, aber niemand verhält sich wie ein starres Gefüge. Alles in unserem Körper ist in ständiger Veränderung und unsere geistigen Regungen sind noch beweglicher. De facto gehört es zu den schwierigeren Übungen, den Geist dort zu halten, wo der Hintern ist.
Menschliche Kontakte sind ein wichtiger Motor für diese Veränderungen, weil durch sie bestimmte Erfahrungen überhaupt erst möglich werden. Oder um es mit Max Raabe zu sagen: “Küssen kann man nicht alleine. Dafür braucht man einen andern Mund.” Mit jedem, mit dem wir zu tun haben, erfahren wir uns selbst anders und das hat zu tun damit, wie dieser Mensch “auf uns spielt”. Jede Begegnung inspiriert einen anderen Ausdruck.
Manche Menschen bringen in uns die schönsten Farben zum Leuchten, während ein Orchester die Ode an die Freude spielt. Andere tuten nur ungeschickt und schräg auf uns herum. Einfache Lieder, lange Sonaten, einzelne Töne, harmonische Klänge und klare Lichter, verstörendes Stroboskop - alles ist möglich. Wir tun dasselbe bei anderen, schon mit den Augen, durch reine Gegenwart und natürlich vor allem durch Ansprache und Verhalten.
Energie folgt Aufmerksamkeit
In den Tiefen unseres eigenen Gedächtnisspeichers haben wir bewusste und noch mehr unbewusste Episoden und Erfahrungen, die lenken, was wir in der Welt zu erkennen imstande sind. Meine Theorie ist, wir holen im Gegenüber in dem Moment genau das hervor, was wir just gerade brauchen, um etwas ganz Bestimmtes zu verstehen. Gleichzeitig werden diese Eigenschaften durch das Licht der Aufmerksamkeit im Anderen stärker. Man verschmilzt in dem Moment mit der Erfahrung von Licht und Klang und macht sich das Geschehen so zu eigen.
Vergessen Sie in dem Zusammenhang nicht von ihrem Boycottrecht Gebrauch zu machen! Es funktioniert in beide Richtungen. Wenn jemand vor Ihnen steht, an dem Sie partout nichts Sinnvolles oder Schönes erkennen können, drücken Sie keine Tasten! Gehen Sie weiter! Wenn jemand Sie in einer Weise “spielt”, wie Sie sich selbst nicht erleben wollen, murmeln Sie: “Hier muss eine Verwechslung vorliegen!”, und gehen weiter! Aufmerksamkeit kann man entziehen. Mein Spruch ist: “Tut mir leid, aber ich bin schon alt, ich sterbe bald, ich habe dafür keine Zeit.” Das weckt Verständnis und ist die Wahrheit.
Wachsen durch Liebe
Offensichtlich initiieren viele Begegnungen Lern- und Wachstumseffekte. Diese Art des Lernens durch Mögen, ist nach meiner Lesart bereits eine Form von Liebe. Die Offenheit, wenn ein Mensch konzentriert die Augen auf einen anderen heftet, an seinen Lippen hängt, jedes Wort und jede Geste aufnimmt, ist Verliebtheit und gleichzeitig die schnellste Art, Neues zu lernen. Ohne Wenn und Aber. Nicht immer fährt der Schieberegler auf der Intensitätsskala der Liebe auf 100%. Schon 10% Mögen senkt die eigenen Schutzschilde und erzeugt Aufnahmebereitschaft. Das liebende Herz wird so zum Empfänger. Ein Kreislauf schließt sich. Geben und Nehmen werden eins.
Kinder lernen bis zur Pubertät nicht “fürs Leben”, sondern für die Liebe ihrer Lehrer. “Schau, was ich gemacht hab.” “Schön hast du das gemacht. Das kannst du sehr gut.” Pädagogik, die ohne liebevolle Augen auskommen will - und solche verkopften Ansätze gibt es leider - muss versagen. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir durch einander und miteinander wachsen. Die direkte Eins-zu-Eins-Interaktion ist der Turbo für totale Erfahrung und Reifungsprozesse schlechthin.
Elterliche Liebe ist hartverdrahtet. In den ersten Lebensjahren stieren Mutter und Vater auf ihr Baby, wie auf einen Topf Milch auf dem Feuer. Sie bringen dadurch Reaktionen und Erfahrungen im Kind hervor. Es wächst nicht nur körperlich, sondern reift mental und emotional.
Ein Leben lang behalten Begegnungen diese Dynamik. Beziehungen zu Lehrern und Mentoren funktionieren so, zu Stars und Vorbildern ebenso. Wir ziehen uns an anderen hoch, indem wir uns verlieben in das, was ein anderer von sich zeigt. Seine Energie klickt in unser System wie ein passendes Puzzlestück. Der andere erfährt sich ebenfalls in neuer Weise. Liebe ist im besten Fall immer ein Gewinn für beide.
Die Intensität der Gefühle ist dabei durchaus ein Maß für die Wichtigkeit einer Beziehung für einen selbst - nicht notwendigerweise für den anderen! Sich als Empfänger unwillkommener Spielversuche und Blickattacken zu erwehren, ist eine Kampfkunst, wenn der Bewunderer nicht höflich sozialisiert ist. In Europas kulturellem Code schätzt man in der persönlichen Begegnung daher die vorsichtige Distanz hoch. Anziehung ist Privatsache, solange man nicht eine klare Erlaubnis bekommen hat, auf dem Instrument zu spielen, das einem schließlich nicht gehört!
Wunden heilen durch Liebe
Früher dachte ich, es ginge bei allen, deren Nähe wir suchen, ausschließlich um positive Schwingungen. Irgendwann fiel mir auf, dass wir uns zu manchen Menschen hingezogen fühlen, auch ohne leuchtendes Farbspiel und ohne den Klang fröhlicher Töne. Das Lied berührt tief, die Farben faszinieren. Wir spüren ein anderes Herz und irgendetwas daran ist uns unheimlich vertraut, obwohl es nicht lacht. Wir drücken vorsichtig und es erklingt tiefes Moll. Trauer, Angst, Schmerz - auch solche Lichter können wir in Anderen leichter erkennen und verstehen als in uns selbst. In diesen Momenten entsteht heilsames Mitgefühl, und weil Mitgefühl keine Trennung kennt, findet auf beiden Seiten Heilung statt.
Wenn ich die tiefe Freundschaft von Soldaten mit gemeinsamen Kriegserfahrungen sehe - in Kroatien sind sie in meinem Alter - sehe ich dieses heilende Band. Wenige Worte genügen ihnen. Sie schauen einander in die verwundeten Herzen. Niemand bringt heilendes Sehen, Erkennen und Verstehen so auf, wie ein Kriegskamerad, weil niemand, der es nicht erlebt hat, die gleiche totale Erfahrung des Unsagbaren hat. Diese Bande können nicht an Alltagsproblemen zerbrechen und keine Entfernung in Raum und Zeit schwächt sie. Veteranen sind sich gegenseitig der einzige Trost bis zum Tod.
Die schräge Musik des Nichtmögens
Menschen, die wir nicht mögen, können wir manchmal nicht einfach ignorieren. Jeder kennt die Momente, in denen man sich intensiv mit jemandem beschäftigt, der einen aufregt. Hypnotisch kann man die Liste der negativen Eigenschaften dieses Menschen repetieren. Man erblickt ihn zuverlässig auf einer Party zwischen hundert Leuten, um sich zum x-ten Mal im Geist oder gar verbal an seinen Niedrigkeiten abzuarbeiten. Warum gehen wir nicht einfach gleichmütig vorbei? Ein Tipp: Je stärker die emotionale Reaktion, desto mehr hat es mit einem selbst zu tun - auch im Schlechten.
Die wichtige Rolle von Lebensgefährten
Wenn jemand zwanzig Jahre lang täglich auf mir vor allem die grünen und die rosafarbenen Lichter drückt, werde ich bekannt werden als ‘die Grünrosafarbene’. Nach 5 oder 30 Jahren identifiziere ich mich mit dem, was mein wichtigster Gefährte in mir sieht. Andere Beziehungen fallen nicht so ins Gewicht. Die Augen und die Ansprache des Ehepartners werden zum definierenden Maß. Kennt ihr Partner eine Fülle von Melodien oder spielt er oder sie auf Ihnen die ewig selbe Leier? Mögen Sie diese Version von sich? Wollen Sie so sein?
Dauerhafte und kurzfristige Beziehungen
Mitmenschen, die aufgrund eigener Verdienste so veranlagt sind, dass sie in uns Gutes sehen können, werden uns dabei helfen, unsere besten Seiten zu entwickeln. Ihre Augen erwarten förmlich in jeder Situation unseren besten Auftritt. Gute Freunde, Lehrer und Mentoren drücken unsere Tasten so, dass Mut aufleuchtet, wo vorher Furcht war. Wo Schüchternheit war, ertönt Offenheit und Freude. Sie lachen über unsere Witze und alle fühlen sich gut. Wo solches Wohlwollen und Vertrauen gegenseitig herrscht, wachsen dauerhafte Verbindungen. Es hat den bedingungslosen Geschmack der Liebe: Man genießt die Gegenwart und freut sich, dass es dem anderen gut geht. Beziehungen, in denen gegenseitig Tugenden gefördert werden, haben gute Voraussetzungen, lange zu halten.
Man sagt, unter echten Freunden kann man sein, wie man ‘wirklich’ ist. Freunde sind dort, wo man mühelos in die eigene Kraft kommt. Im Gegenzug gilt: Wenn jemand von Liebe spricht, ohne dass Sie sich gut fühlen, ist das seine Liebesgeschichte, nicht ihre. Ziehen Sie Leine!
Nicht jede Begegnung ist für immer.
Geschäftspartner wollen eine bestimmte Sache mit uns erledigen. Sie müssen sich nicht um Variation bemühen. Eine Zufallsbekanntschaft auf Reisen kann unsere Stimmung aufhellen und für den Tag fröhlich ausrichten. Auch das ist gut und bringt uns weiter. Mitbewohner begleiten einen für Jahre tagein tagaus und verschwinden irgendwann für immer. Sie waren Spiegel, Lehrer, Heiler - Träger von Informationen, die in einem Moment im Leben zu uns passten.
Wenn Sympathie nicht auf beiden Seiten gleich groß ist oder Liebe gänzlich unerwidert bleibt
Manchmal verlieben wir uns in Filmfiguren und lernen dadurch zu sein, wer wir sind. Meine Offenheit für das gesamte Wesen der Violet Crawley in der Serie ‘Downton Abbey’, kennt keine Grenzen. Ich studiere jede ihrer Mienen, sie ist mein Vorbild. Genau so und nicht anders will ich im Alter werden. Sportler vergegenwärtigen sich im Geist wie sie Höchstleistungen erreichen - als Teil des Trainings. Dem Gehirn ist es gleich, welchen Traum es träumt. Die Erfahrung ist da.
Wir können verliebt sein und die Qualitäten dieser Person in uns aufnehmen, auch wenn sie uns keine Zeit schenken will oder kann. Es ist weder nötig, jemanden zu belästigen noch zu leiden, wenn Kontaktgesuche unbeantwortet bleiben. Da ist genug, was man genießen kann, wenn man nur an den Menschen denkt. Gegenseitiges Interesse ist überhaupt nicht selbstverständlich. Es geschieht ständig, dass Sympathie nicht im selben Maß erwidert wird. Ein offenes Herz, beschenkt sich selbst, weil es liebt - bedingungslos und in Freiheit. Der Vorgang des Liebens entzieht sich damit gewöhnlicher Logik.
Zum Schluss ein Experiment:
Achten Sie einen Tag lang gezielt nur auf das Sinnvolle und Schöne in den Menschen, die ihnen begegnen — und ignorieren alles andere. Die dicke Frau geht besonders lieb mit ihrem Hund um. Können Sie es sehen? Das soll keine Übung im Verstellen und Heucheln werden. Wenn jemand in Ihren Augen ganz und gar unmöglich ist, beachten Sie ihn keinen Augenblick. Am Ende der Woche ziehen Sie Bilanz. Wir war die Musik? Wir war das Lichtspiel? Wie geht es Ihrem Herzen?
Der Wert jener Menschen, die uns ihre wohlwollende, liebevolle Aufmerksamkeit und somit ihre Lebenszeit schenken, ist für unsere Entwicklung unermeßlich. Manchmal ist es nur ein Wort, ein Moment, manchmal sind es treue Jahre. Geliebt zu werden, verändert unsere Erfahrung von uns selbst.
Seien Sie für andere dieser Mensch.